Illustration: Wilhelm Busch, grafische Bearbeitung: Rahel Golub
Schneller Schlau

Der Lehrermangel hat erst begonnen

Von LISA BECKER, Grafiken RAHEL GOLUB · 13. November 2023

Schon heute klagen die Schulen über zu wenige Lehrer, doch wird sich der Mangel in den kommenden zehn Jahre weiter verschärfen. Gegen dieses drängende Problem gibt es kein Patentrezept mit durchschlagendem Erfolg.

Womöglich ist der Lehrkräftemangel das größte Problem der deutschen Schulen, er ist hartnäckig und ein Ende so schnell nicht in Sicht. Die Vorhersagen, die bis in die Mitte des kommenden Jahrzehnts reichen, sind allerdings sehr uneinheitlich.

Nach der Schätzung der Kultusministerkonferenz (KMK) ist der Mangel deutlich geringer als nach Berechnungen des Bildungsökonomen Klaus Klemm und der Fachleute vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Der Unterschied kommt unter anderem daher, dass die KMK die Zahl der künftigen Lehramtsabsolventen deutlich höher einschätzt – und sie nach Ansicht der anderen Experten so krass überschätzt. 

Einig ist man sich indes, dass ab Mitte dieses Jahrzehnts eine signifikante Lücke entsteht, die sich in den anschließenden etwa zehn Jahren weiter öffnet. Nach Klemm fehlen im Jahr 2035 sogar fast 80.000 Lehrer. Auch zu Beginn dieses Schuljahrs haben die Länder Tausende unbesetzte Stellen gemeldet. Besonders in Ostdeutschland ist der Mangel groß, doch er verschärft sich auch in den westdeutschen Bundesländern. 

Die Lehrkräftelücke hängt stark damit zusammen, dass die Entwicklung der Schülerzahlen falsch eingeschätzt wurde und deshalb nicht genügend Lehrer aus­gebildet wurden. Lange sank die Schülerzahl wegen geringer Geburtenraten; man glaubte, das setze sich fort. 

Doch seit den 2010er-Jahren steigt die Geburtenrate, und die Zahl der Schüler hat sich seit ein paar Jahren stabilisiert – seit Kurzem wächst sie sogar wieder, was mutmaßlich bis 2031 der Fall sein wird. Im vergangenen Jahr wurden so viele Kinder eingeschult wie seit 17 Jahren nicht mehr. Entsprechend trifft der Lehrermangel zunächst die Grundschulen besonders hart. Doch im Laufe des Jahrzehnts werden die höheren Schülerzahlen die weiterführenden Schulen erreichen. Besonders groß ist die Lücke in den zukunftsträchtigen Mint-Fächern.

Dabei ist die Zahl der Lehrkräfte in den vergangenen Jahren durchaus gestiegen, wenn auch nicht überall. Zurückgegangen ist sie insbesondere in Thüringen und Sachsen-Anhalt. 

Dort ist auch das Durchschnittsalter der Lehrerschaft, wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern, besonders hoch, weshalb eine Pensionierungswelle noch bevorsteht. Insgesamt hat sich die deutsche Lehrerschaft allerdings verjüngt. Gegen die Lehrerlücke helfen die zusätzlichen und jüngeren Lehrer aber nur bedingt. Denn nicht nur wegen der steigenden Schülerzahlen, auch aus anderen Gründen werden mehr Lehrkräfte gebraucht. Dazu gehören die verstärkt nötige Förderung leistungsschwacher Schüler und von Migranten, die Deutsch lernen müssen, sowie eine längere Verweildauer an den Schulen, weil mehr junge Menschen die Hochschulreife erlangen.

An Vorschlägen, wie man den Lehrermangel lindern könnte, mangelt es derweil nicht. Für besonders hitzige Diskussionen sorgt die Forderung, die Teilzeitmöglichkeiten von Lehrern einzuschrän­ken. Schließlich arbeiteten sie deutlich öf­ter als andere Berufsgruppen in Teilzeit, heißt es dann. Tatsächlich ist die Teilzeitquote unter Lehrern mit 40,6 Prozent im Schuljahr 2021/22 viel höher als in der Gesamtwirtschaft mit 29,9 Prozent. Das liegt aber nicht daran, dass Lehrer weniger Lust auf Arbeit haben, sondern an dem überdurchschnittlich hohen Frauenanteil in diesem Beruf. Er beträgt rund drei Viertel und in der Gesamtwirtschaft nur knapp 50 Prozent. Frauen, vor allem Mütter, ar­beiten deutlich öfter in Teilzeit als Männer – für Lehrerinnen gilt das nicht mehr als für Frauen mit anderen Berufen. 

Unterschiede zeigen sich mit Blick auf die Teilzeitquote in den einzelnen Bundesländern und Schulformen. Tendenziell geringer ist sie in Ostdeutschland, denn dort arbeiten traditionell mehr Mütter Vollzeit. Besonders hoch ist sie in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen. Fachleute führen das auf die besonders starke Verjüngung der Lehrerschaft zurück; mehr Lehrkräfte seien in der Familiengründungsphase und arbeiteten Teilzeit.

Auf die Forderung nach einer Einschränkung der Teilzeit reagieren Lehrerverbände unwirsch. Kurzfristig möge dies Linderung bringen, längerfristig verschärfe das den Mangel noch zusätzlich. Denn der Beruf werde so für die unattraktiver, die ihn am häufigsten wählten: junge Frauen.

 Die derzeit wichtigste schnell wirkende und damit unverzichtbare Maßnahme gegen den Lehrermangel ist die Einstellung von Seiteneinsteigern, also Personen, die kein grundständiges Lehramtsstudium absolviert haben. Ihr Anteil unter den Lehrkräften wächst. Besonders hoch ist er in Ostdeutschland und – ein besonders alarmierender Befund – in Brennpunktschulen. Sorgen bereitet zudem die pädagogisch-didaktische Nachqualifizierung der Neulinge. Fachleute kritisieren sie als oft unzureichend und mahnen einheitliche Standards an. Außerdem sinken die Anforderungen an die Anfangsqualifikation. So braucht man mancherorts für den Seiteneinstieg kein Studium mehr. 

Langfristig hilft es, mehr Lehrer auszubilden, bei allen Unwägbarkeiten über Geburtenzahlen, Einwanderung und Reformen. Die Zahl der Studienanfänger stieg ab 2016 wieder, doch sowohl 2021 als auch 2022 ist sie zurückgegangen. Eine Lehramtsausbildung dauert lange, von Studienbeginn bis zur Einstellung vergehen rund acht Jahre. Hinzu kommt: Rund die Hälfte derer, die ein Studium beginnen, kommt gar nicht in dem Beruf an. Das zeigt der „Lehrkräftetrichter“ des Stif­terverbands für die Deutsche Wissenschaft. Besonders gravierend ist der Schwund in den ersten Semestern. Hier könnten eine bessere Studienberatung, Begleitung durch Mentoren und mehr Praxisbezug helfen. 

Es gibt noch einige weitere Vorschläge, wie die Lehrerlücke kleiner werden könnte: Lebensarbeitszeitkonten, digitalerer Un­terricht, Einsatz von Masterstudenten, Gewinnung ausländischer Fachkräfte oder Ein-Fach-Lehrer. Damit solche Maßnahmen Wirkung entfalten und der Unterrichtsqualität nicht schaden, bedürfen sie freilich einer sorgfältigen Umsetzung. Ansonsten dürfte es vermehrt zu Notmaßnahmen kommen: größere Klassen, Kürzungen der Stundentafel – oder gar die Vier-Tage-Woche für Schüler. 

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